Eine umfangreiche Gruppe attisch-schwarzfiguriger Gefäße des ausgehenden 6. und beginnenden 5. Jhs. v. Chr. zeigt eine weibliche Gestalt, die im Damensitz auf einem Stier reitet. Nur in einem einzigen Fall ist die Deutung der Reiterin als Europa durch eine Beischrift gesichert. Häufig sind die Darstellungen dagegen, etwa durch die Präsenz von Satyrn, dionysisch konnotiert, so dass die Reiterin in diesen Fällen als Mänade angesprochen wurde. In der Tat hält sie gelegentlich Attribute wie Weinranken oder Krotala, die eindeutig in die dionysische Sphäre weisen. Kürzlich ist eine alternative Deutung vorgebracht worden, der zufolge es sich bei den Bildern um Chiffren für Tieropfer (u. a. für Dionysos) handle und die Stierreiterin lediglich eine Art Opferdienerin sei.
Die bisherigen Interpretationsansätze beruhen auf einem gleichsam synoptischen Blick auf die genannten Bilder – eine Perspektive, die fast zwangsläufig mit dem Bestreben einhergeht, für alle Darstellungen, bei denen eine Benennung der Stierreiterin als Europa nicht in Betracht kommt, eine einheitliche Deutung zu postulieren. Für den antiken Betrachter jedoch, dem eine solche Darstellung etwa im Kontext des Symposions begegnete, kann diese synoptische Sicht nicht vorausgesetzt werden kann. In meinem Beitrag möchte ich daher methodisch den umgekehrten Weg beschreiten, d. h. von einem oder zwei einzelnen Gefäßen mit der Darstellung einer Stierreiterin ausgehen und unter Heranziehung weiterer ikonographischer, aber auch literarischer Zeugnisse den semantischen Bezugsrahmen (Frame) rekonstruieren, der für den antiken griechischen Betrachter die Grundlage für das Verständnis des Bildes bildete. Ziel ist es, die vom Vasenmaler möglicherweise intendierte, aber bislang in der Forschung wenig beachtete Mehrdeutigkeit der ausgewählten Szenen herauszuarbeiten, die vor allem auf der verbreiteten Vorstellung der Epiphanie des Dionysos in Stiergestalt beruht.