Auf den Kopf gestellt! Welt-Bilder – Bild-Welten
Eine Ausstellung von Studierenden der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Exzellenzcluster Topoi.
Das Aussehen der Welt ist eine der zentralen Fragen in der Geschichte der Menschheit. Jede Zeit und jede Kultur findet ihre eigene Antwort. Visuelle Weltbilder dienen der Orientierung, doch häufig weniger der räumlichen als der ideellen: Innerhalb einer auf Werte gegründeten Weltanschauung entsteht ein Weltbild im übertragenen Sinn. Um sich tatsächlich im Raum zurechtzufinden, sind Weltbilder ungeeignet. Dafür muss man auf mündliche und schriftliche Beschreibungen, Wegmarkierungen oder kleinräumige Karten zurückgreifen.
Wie auch immer man unsere Welt darstellt – man kann es nicht ‚richtig’ machen. Die scheinbare Objektivität der Karten offenbart sich bei näherem Hinschauen als in hohem Maße konstruiert. Es fällt uns leicht, dies bei Karten aus räumlich und zeitlich fremden Kulturkreisen zu erkennen. Bei unserem eigenen Weltbild macht uns die Vertrautheit mit der scheinbar selbstverständlichen Darstellung der Erde blind dafür. Eines aber ist sicher: Auch das uns geläufige Weltbild ist nur ein Ausdruck seiner Zeit und seiner Herkunftskultur.
In fünf Themenbereichen werden Welt-Bilder und Bild-Welten aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen einander gegenübergestellt. Den Anfang macht die griechisch-römische Antike. Deren Weltbilder blieben über lange Zeit, zum Teil sogar bis heute, wirkmächtig – obwohl keine dieser Darstellungen im Original erhalten ist.
Ziel der Ausstellung ist es, unseren eurozentrierten Blick auf die Welt bewusst zu machen und unsere Sehgewohnheiten auch im übertragenen Sinn auf den Kopf zu stellen, ganz so wie es die oben zu sehende Weltkarte aus australischer Sicht für uns tut.
Stationen
2. Juni – 3. Juni 2012 / Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum Berlin
5. Juni – 17. Oktober 2012 / Staatsbibliothek zu Berlin
18. Oktober – 23. November 2012 / Juristische Fakultät der Humboldt- Universität
24. November 2012 – 17. April 2013 / Friedrich-Meinecke-Institut, Berlin
17. April – 30. Mai 2013 / Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität, Berlin
14. Juni – 2. August 2013 / Wissenschaftszentrum Bonn
Kooperationen
Die Ausstellung war das Ergebnis einer Lehrveranstaltung mit den Studierenden Daniel Bönisch, You-Kyung Byun, Gilles Hames, Linda Richter, Franziska Schmitt, Anna Stadelmann, Matthias Stange und Ansgar Thode unter Leitung von Wolfgang Crom, Joachim Kallinich und Nicola Zwingmann. Sie war ein Kooperationsprojekt zwischen der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Excellence Cluster Topoi.
Das erste Foto des vollständig von der Sonne beschienenen blauen Planeten erreichte Kultstatus. Ein Astronaut der US-amerikanischen Raumfähre Apollo 17 nahm es am 7.12.1972 auf dem Flug zum Mond auf.Diese, für Menschen eigentlich unzugängliche Perspektive greift der frei verfügbare virtuelle Globus von Google Earth auf. Er ist aus hunderttausenden von Satelliten- und Luftbildern unterschiedlicher Qualitäten und Aufnahmedaten zusammengesetzt. Google Earth markiert einen kartografischen Umbruch: Die fotografische Ansicht der Erde ist im Internetdienst Google Maps mit einer Karte kombinierbar, beide sind mit Geodaten verknüpft. Benutzer können selbst mitgestalten, indem sie Fotos und Kontaktinformationen von Firmen und Sehenswürdigkeiten einstellen. In diesem Weltbild kann man stufenlos vom Weltall bis vor die eigene Haustüre zoomen.
Exp01: Blue Marble: Next Generation Project | NASA Goddard Space Flight Center: Reto Stöckli, Robert Simmon | Digital bearbeitete Montage von Satellitenaufnahmen auf der Basis von MODIS-Daten, 8.2.2002
Die Welt als Kartoffel
Die Form der Welt
“Die Welt ist eine Kartoffel!” Wer diese Aussage zum ersten Mal hört, wird sie wohl ablehnen. Doch so sieht die Erde nach dem – stark überhöhten – aktuellsten wissenschaftlichen Modell aus. Unser heutiges Weltbild ist geprägt vom Blick aus dem All auf den blauen Planeten. Es ist in Büchern über Nachrichtensendungen bis hin zu Google Earth allgegenwärtig und aus unseren Köpfen nicht mehr wegzudenken. Dabei existieren diese Abbilder der Erde aus der Perspektive von Satelliten und Raumfähren gerade einmal seit 40 Jahren.
Griechische Naturphilosophen, die im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. die ersten Weltbilder Europas entwickelten, hielten die Erde für eine Scheibe oder einen Zylinder. Doch schon zur selben Zeit entstand auch die Theorie der Kugelgestalt der Erde. Durch genaue Naturbeobachtungen und mathematisch-astronomische Berechnungen konnte diese Theorie seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. bewiesen und der Erdumfang mit ca. 40 000 km erstaunlich genau berechnet werden. Das Wissen um die Kugelgestalt der Erde hat sich in gelehrten wie politischen Kreisen durch das Mittelalter erhalten, wenn auch Wenige es in Frage stellten.
Im 18. Jahrhundert konnte durch exakte Messungen ermittelt werden, dass die Erde keine ideale Kugelgestalt hat, sondern wegen ihrer Rotation an den Polen abgeflacht und am Äquator ausgebeult ist. Derzeitige Forschungen widmen sich den Unregelmäßigkeiten der Form des Erdkörpers. Und so befindet sich das Bild der Erde durch bessere wissenschaftliche Methoden weiter im Wandel.
Unserer Kenntnis nach war Anaximander von Milet im 6. Jahrhundert v. Chr. der erste, der eine geografische Karte der Welt der Antike entwarf. Wir wissen von ihr aus Fragmenten seiner philosophischen Schrift, die spätere Autoren zitiert haben. Diese Zitate bilden die Grundlage für moderne Rekonstruktionen, wie der hier gezeigten. Anaximander vergleicht die Welt mit einer Säulentrommel. Er stellte sie sich demnach als einen Zylinder vor. Auf dessen oberer Kreisfläche befindet sich – vom Ozean umflossen – die bekannte und bewohnte Welt.
Exp03: Weltmodell nach Anaximander | Digitales Bild | Milet, 1. Hälfte 6. Jh. v. Chr., Rekonstruktionsversuch durch Klaus Geus und Michael Rathmann, zeichnerische Umsetzung durch Michael Herchenbach 2009. Mit freundlicher Genehmigung von Michael Herchenbach |
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Eratosthenes von Kyrene (3. Jh. v. Chr.) ist der Begründer der Kartografie als Wissenschaft. Als erster stützte er sich nicht nur auf Angaben zu Reisewegen und -zeiten, sondern auf mathematisch-astronomische Methoden. Er berechnete den Erdumfang auf 252.000 Stadien. Das entspricht in etwa 40.000 km – welches der etwas variierenden Stadienmaße er verwendete, ist unbekannt – und kommt somit ziemlich nahe an die heute errechneten 40 047 km heran. Seine Weltkarte lässt sich aus Berichten späterer antiker Autoren in etwa rekonstruieren. Wegen des Alexanderzuges nach Indien kannte er die große Ausdehnung Asiens, die südliche Ausdehnung Afrikas dagegen war ihm gänzlich unbekannt.Exp04: Weltmodell nach Eratosthenes | Zeichnung | Alexandria, 2. Hälfte 3. Jh. v. Chr. | Rekonstruktionsversuch durch Klaus Geus, zeichnerische Umsetzung durch Michael Herchenbach | Michael Rathmann (Hg.), Wahrnehmung und Erfassung geographischer Räume in der Antike, Mainz 2007, Taf. 8,2 |
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Will man die Erde sehr genau vermessen, muss man eine Reihe von Faktoren berücksichtigen, etwa die Erdrotation, die Lage der Schwerefeldanomalien der tektonischen Platten und die bis zu 200 Meter betragenden Höhenunterschiede des Meeresspiegels. Sie bestimmen die exakte äußere Form des Erdkörpers, die ständig in – sehr langsamer – Bewegung ist. Wenn man die Abweichung der tatsächlichen Form der Erde zur idealen Form einer an den Polen abgeflachten Kugel darstellt, erscheint die Erde wie eine Kartoffel. Da dieses physikalische Modell, eigentlich “Geoid” genannt, derzeit am Potsdamer Geoforschungszentrum erforscht wird, ist es als “Potsdamer Kartoffel” bekannt geworden.
Exp05: Potsdamer Geoid / “Potsdamer Kartoffel” | Deutsches GeoForschungszentrum (GFZ) am Helmholtz-Zentrum, Potsdam | Digital bearbeitete Satelliten- und Oberflächendaten | Potsdam, 2011 | www.gfz-potsdam.de/medien-kommunikation/infothek/mediathek/bildarchiv/geoid-die-potsdamer-schwerekartoffel/ |
Alles ist Projektion
Von der Kugel zur Fläche
Die schwierigste Frage der Kartografie lautet: Wie kann man die gekrümmte Oberfläche der Erde auf eine flache Karte übertragen? Die ersten – und auch manche späteren – Weltbilder waren freie Darstellungen, in die neben Informationen aus Reiseberichten auch mythische und philosophische Annahmen einflossen.
Doch das seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. belegte Wissen um die Kugelgestalt der Erde forderte schon bald die Gelehrten heraus. Sie entwickelten verschiedene Möglichkeiten, wie man die Oberfläche einer Kugel mittels eines Gitternetzes in die Ebene bringen kann. Dazu legt man beispielsweise einen Zylinder um die Kugel oder man stülpt ihr einen Kegel über. Die Ergebnisse dieser Kartenprojektionen sind sehr unterschiedlich und haben verschiedene Vor- und Nachteile, doch sie bleiben in jedem Fall auf die eine oder andere Weise verzerrt. Mittlerweile kann man
je nach Verwendungszweck zwischen gut 400 verschiedenen winkel-, flächen- oder längentreuen Kartennetzentwürfen wählen. Die geometrischen Formen Mantel, Trapez oder Rechteck, die der jeweiligen Projektion zugrunde liegen, legen nicht zuletzt die äußere Gestalt der Karte fest.
Im 2. Jahrhundert n. Chr. entwickelte Ptolemaios einen Kartennetzentwurf auf der Grundlage von Längen- und Breitengraden, der die Verwendung von Koordinaten erlaubte. Damit hat er ein bis heute gültiges System eingeführt. Die Wiederentdeckung seiner Werke zog eine Welle von Rezeptionen seiner Kartenentwürfe nach sich. Alle namhaften Kartografen des 16. und 17. Jahrhundert schufen Atlanten nach seinen Vorgaben. Ptolemaios galt nach eineinhalb Jahrtausenden als unantastbare Autorität.
In seinem kurz nach 150 verfassten ‚Handbuch der Geografie’, einem der bedeutendsten wissenschaftlichen Werke der Antike, stellte Klaudios Ptolemaios das geografische Wissen seiner Zeit zusammen und setzte es bildlich in einer Weltkarte um. Das Werk beinhaltet eine Anleitung zum Kartenzeichnen, in der er auf das grundsätzliche Problem der Projektion eingeht und seine neuen, ungleich besseren Methoden vorstellt – darunter die modifizierte Kegelprojektion mit gekrümmten Meridianen, wie im Bild zu sehen. Der Hauptteil seines Werks besteht aus einer Liste mit den Namen und Koordinaten von über 8000 Orten, deren Lage nach Möglichkeit nicht aus Reiseberichten geschätzt, sondern mathematisch und astronomisch abgesichert ist.
Exp06: Weltkarte des Klaudios Ptolemaios | Erste in Deutschland bei Lienhart Holl gedruckte ‚Cosmographia Claudii Ptolemaei Alexandrini’, hrsg. durch Nicolaus Germanus | Holzschnitt, 55 x 40 cm | Ulm, 1482 | Staatsbibliothek zu Berlin: Inc. 1743 |
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Für die Seefahrt waren die Kartenprojektionen, die bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts verwendet wurden, unzulänglich. Sie konnten bei der Navigation den geradlinigen Kurs eines Schiffes nicht als gerade Linie wiedergeben. Die dafür nötige Berechnung von Geraden galt als kartografische Herausforderung. Gerhard Mercator (1512 – 1594) löste das Problem durch stetig steigende Verzerrungen vom Äquator zu den Polen, den so genannten wachsenden Breiten. Seine winkeltreue Projektion gibt zwar Entfernungen nicht maßstäblich wieder, doch sie ermöglicht das genaue Anpeilen von Zielen. Bis heute liegt die Mercator-Projektion vielen Weltkarten zugrunde.
Exp07: Gerhard Mercator, ‚Nova et aucta orbis terrae descriptio ad usum navigantium emendate accomodate’ | Kupferstich, 198 x 121 cm (18 Blätter à 38 x 44 cm) | Duisburg, 1569 | Kenneth Nebenzahl: Der Kolumbusatlas, Braunschweig 1990, S. 128-129 | Link: http://www.wilhelmkruecken.de |
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Der nordamerikanische Kartograf John Paul Goode (1862 – 1932) entwickelte eine flächentreue Darstellungsmethode der Erde. Sie bildet die Landmassen mit geringer Dehnung und Verkürzung ab. Die Größenverhältnisse von Grönland und der Antarktis beispielsweise sind im Vergleich zur Mercator-Projektion in Bezug auf den Umriss (doch nicht auf den Flächeninhalt) formtreuer und damit wirklichkeitsnäher. Dadurch müssen allerdings die Ozeane – oder bei deren zusammenhängender Darstellung die Kontinente – unterbrochen werden. Die Karte hat somit ein zerlapptes Erscheinungsbild.
Exp08: Satellitenbild, bearbeitet nach der Projektionsmethode von Goode, entwickelt 1925 | Von Strebe – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 | Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Goode_homolosine_projection_SW.jpg |
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Von der Fläche zur Kugel: Die Welt als Bastelbogen Bastelbogen Globus herunterladen [PDF|A4] |
Die Welt ist (k)eine Scheibe
Gott und die Welt
Religionen bieten Orientierung in der Welt. Religiöse Weltbilder veranschaulichen die Ordnung des Raums, wie sie in ihrem Glaubensumfeld – und nur dort – als gültig empfunden wird. In der heidnischen Antike flossen zwar durchaus mythische Vorstellungen in das Weltbild mit ein. Sie waren aber mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit nicht unvereinbar. Nach der Interpretation vieler christlicher Gelehrter standen der christliche Glaube und die heidnische Lehrmeinung von der Kugelgestalt der Erde im Widerspruch. Die als unanfechtbar geltende Autorität der Heiligen Schrift sollte diesen angeblichen Irrglauben widerlegen. Doch die Bibel macht zur äußeren Form der Welt uneinheitliche Aussagen, denen ägyptische, babylonische und jüdische Vorstellungen zu Grunde liegen. Sie werden oft vereinfachend als ‚biblisches Weltbild” zusammengefasst.
Das christliche Mittelalter schuf eigene, symbolisch hoch aufgeladene Weltbilder, die aus biblischen, historischen und geografischen Informationen gefügt sind – Mischformen der Heilsgeschichte mit der realen Welt, des Jenseits und des Diesseits. Einfache, abstrakte (schematische) Formen entwickeln sich zu kunstvollen und komplexen Bildern.
Wenn sich nach- und nebeneinander ganz unterschiedliche Weltbilder finden, liegt das auch an den jeweils gültigen Werten. Nicht zuletzt deswegen ist die Geschichte der Weltbilder keine Geschichte eines immer größeren geografischen Wissens, eines sich stets erweiternden geistigen Horizonts und einer zunehmenden Wirklichkeitstreue.
Hier sehen wir das Zeugnis eines spät-antiken Weltbildkonflikts. Es handelt sich um den ersten und für lange Zeit einzigen Versuch, eine umfassende Kosmologie in Übereinstimmung mit der Bibel zu entwickeln. Entgegen der heidnischen Vorstellung geht der Verfasser der ‚Christlichen Topografie des gesamten Kosmos’ aus der Mitte des 6. Jahrhunderts von einer flachen Erde aus. Die Welt ist als langrechteckige Fläche wiedergegeben. Sie ist um das Mittelmeer angeordnet und wird vom Ozean umgeben, zu dem sich noch das Rote Meer, der Persische Golf und auch das Kaspische Meer öffnen. Östlich des für die Menschen unüberwindlichen Ozeans liegt das Paradies.Exp09: Weltkarte des Kosmas Indikopleustes | ‚Christliche Topographie des ganzen Kosmos’ | Buchillustration auf Pergament, 23 x 31 cm | Konstantinopel (heute: Istanbul, Türkei), 11. Jh., verlorenes Original: ca. 550 n. Chr. |Peter Barber (Hg.): Das Buch der Karten. Meilensteine der Kartografie aus drei Jahrtausenden, übersetzt von Birgit Lamerz-Beckschäfer, Darmstadt 2006, S. 35 |
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Aus dem Benediktinerinnenkloster Ebstorf in der Lüneburger Heide stammt die mit etwa 3,50 m auf 3,50 m größte Weltkarte des Mittelalters. Sie ist reich mit Kommentaren versehen. Im damals üblichen Darstellungsschema sind die drei bekannten Kontinente Asien, Europa und Afrika innerhalb des umlaufenden Ozeans auf dem Erdenkreis angeordnet. Die Welt ist in den Leib Christi eingeschrieben, dessen Kopf, Hände und Füße die Himmelsrichtungen angeben. Der Kopf zeigt den Osten an, wo man das irdische Paradies verortete. Jerusalem, der Mittelpunkt des Christentums, ist zugleich das Zentrum der Welt.
Exp10: Ebstorfer Weltkarte | Rekonstruktion des 1943 verlorenen Originals anhand eines Ende des 19. Jhs. hergestellten Faksimiles, 358 x 356 cm | Kloster Ebstorf, Lüneburg, um 1300 | Jörg Restorff: Kulmbach. Stadtführer, Lindenberg 2000 | Link: www.landschaftsmuseum.de/Bilder/Ebstorf/Ebstorf-ganz_neu-2.jpg http://www2.leuphana.de/ebskart/ |
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Der zeitgenössische Künstler Grayson Perry bedient sich in seiner ‚Map of Nowhere’ des formalen Aufbaus mittelalterlicher Weltkarten. Im Gegensatz zu ihnen erhebt Perrys künstlerische Umsetzung aber keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Seine Pseudokarte ist anstatt in die Gestalt des Heilands in den Körper des Künstlers eingeschrieben. Auf ihr finden sich Bilder und Szenen aus Politik, Geschichte, Religion und Wirtschaft. Zum zentralen Heiligtum gelangen Pilgerscharen durch den After des Künstlers. Die Karte greift zwar viele geografische Elemente auf, doch sie bietet weder im realen Raum noch in einem religiösen Weltbild Orientierung.
Exp11: Map of Nowhere – Purple Variant |Grayson Perry, Radierung, 152 x 113 cm | Galerie Maximillian, Aspen, USA, 2008 | Link: http://hammer.ucla.edu/newsblogs/?p=760 |
Der Nabel der Welt
Zentrum und Peripherie
Wo ist der Mittelpunkt der Welt? Der Mittelpunkt ist da, wo ich mich gerade befinde! Diese zunächst einmal persönliche Per-spektive findet sich in den Weltbildern vieler Kulturen. Indem der jeweilige Kulturraum ins Zentrum gesetzt wird, rücken die umgebenden Gebiete in die Peripherie. Das ‚Reich der Mitte” kann somit fast überall sein. Eine solche Sicht der Dinge wurde meist auch dann beibehalten, wenn sich die geografischen Kenntnisse durch die Entdeckung neuer Gebiete oder ganzer Kontinente
erweiterten. In der Selbstwahrnehmung steht man nicht nur geografisch im Zentrum, sondern auch ideell als ‚Reich der goldenen Mitte”. Uns ist das Bild der Welt mit Europa im Zentrum heute so vertraut, dass es uns wie naturgegeben erscheint.
Dieser eurozentrische Blickwinkel ist nicht zuletzt ein antikes Erbe. Denn die heutige Darstellung der Welt steht in der Tradition der zunächst vom Mittelmeerraum ausgehenden Kartografie der griechisch-römischen Antike, und nicht etwa in derjenigen der arabischen oder ostasiatischen Wissenschaft mit ihren jeweiligen Zentren.
Wie die hier gezeigten Karten verdeutlichen, reicht es aus, eine Weltkarte auf einen anderen Mittelpunkt auszurichten, um uns – nicht nur räumlich – orientierungslos zu machen und damit zu verunsichern: Plötzlich steht unser Weltbild in Frage.
Die Welt als World Wide Web
(Un-)bewohnte Welt
In der Antike bezeichnete der Begriff Oikumene den Teil der Erde, der bekannt und bewohnt war. Im 3. Jahrhundert v. Chr. hatte der griechische Gelehrte Eratosthenes den Erdumfang berechnet. Die Größe der in der Antike bekannten Welt im Verhältnis zur Größe der Erdkugel legte nahe, dass es weitere Erdteile auf der
Unter- und Rückseite des Globus gibt. Man ging von insgesamt vier
Oikumenen aus, die ebenfalls von Menschen bewohnt seien. Doch verhinderten nach dieser Vorstellung der Ozean und die klimatischen Bedingungen – Zonen lebensfeindlicher Kälte bzw. Hitze – jegliche Kontaktaufnahme zwischen den bewohnten Welten.
Die eigene Oikumene war vor allem ein Verkehrs- und Kommunikationsraum, in dem Nachrichten, Personen und Waren kursierten. Durch den technischen Fortschritt – bessere Navigationstechniken, neue Verkehrsmittel und Kommunikationstechniken –
erreichte die Welt als Kommunikationsraum seit der frühen Neuzeit zunehmend globale Ausmaße.
Uns heutzutage erscheint die Welt durch virtuelle Netzwerke im Internet entgrenzt. Doch auch nachdem die Besiedlung unserer Erde nun hinreichend bekannt ist, wird die Suche nach anderen Oikumenen fortgesetzt. Sie hat sich hinaus in den Weltraum verlagert. Es bleibt abzuwarten, ob wir dort mit anderem ‚intelligenten Leben’ Kontakt aufnehmen können.
Der römische Gelehrte Macrobius (ca. 390 – nach 430) formulierte die Vorstellung von einer Welt, die in fünf Klimazonen eingeteilt ist. Für eine dauerhafte Besiedlung sei es im äußersten Norden und Süden jeweils zu kalt (frigida), in Äquatornähe zu heiß (perusta). Die ihn umgebende Oikumene sei wegen ihres gemäßigten Klimas bewohnt. Nach Ansicht des Macrobius lag sie auf einem von vier Kontinenten, die er auf den Kugelvierteln der Erde lokalisierte. Auch auf den drei weiteren Kontinenten gebe es jeweils eine bewohnte Zone. Der dazwischen liegende Ozean und der heiße Gürtel um den Äquator verhindere jedoch eine Kommunikation. Sie mussten so vorerst uns unbekannt (nobis incognita) bleiben.
Exp16: Weltbild des Marcus Tullius Macrobius (eingefärbt) | Macrobius’ Kommentar zu Ciceros ‚Traum des Scipio’, verlegt von Eucharius Hirtzhorn und Gottfried Hittorp | Druck, ca. 10 x 10 cm | Köln, 1526, verlorenes Original: 420/430 | Sächsische Landesbibliothek: [R. S.] 1 B 3711 | Link: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/10953/92/ |
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Europa sieht sich im ausklingenden 19. Jahrhundert im Zentrum eines zunehmend globalen Kommunikations- und Transportnetzes. Dabei fallen die starken transatlantischen Verbindungen besonders ins Auge. Technische Neuerungen ermöglichen die Überwindung immer größerer Strecken in immer kürzerer Zeit. Neben den wichtigsten Verkehrs- und Kommunikationsrouten wird auch der europäische Kolonialbesitz präsentiert. Die zunehmend globale Definition der Oikumene ist aufs Engste mit einem Herrschaftsanspruch verknüpft.
Exp17: Der Weltverkehr: Karte der Eisenbahn-, Dampfer-, Post- und Telegraphenlinien | Gustav Freytag, Lithografie, 90 x 64 cm | Wien, Österreich, 1895 | Museumsstiftung Post und Kommunikation |
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Soziale Netzwerke wie Facebook eröffnen einen globalen Kommunikationsraum im Internet – zumindest für diejenigen, die Zugang zum WWW haben und in deren Ländern sie verfügbar sind. Im Dezember 2011 haben ca. 800 Millionen Menschen Facebook aktiv genutzt, also etwas über 10 Prozent der Weltbevölkerung. Durch die Visualisierung von weltweiten Facebook-Freundschaften entsteht ein Kartenbild virtueller menschlicher Beziehungen. Selbst größte geografische Distanz kann in Sekundenschnelle überwunden werden. Doch politische und technische Hürden beschränken den Zugang weiterhin. Außerdem bleibt fraglich, ob eine globale Vernetzung durch eine kommerzielle Internet-Plattform wünschenswert ist.Exp18: Visualizing Friendships | Paul Butler, Digitales Bild, 2010 | Link: https://www.facebook.com/notes/facebook-engineering/visualizing-friendships/469716398919 |
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Diese Karte fällt durch ihr ungewöhnliches Format auf: Auf einst über sieben Metern Länge bei ca. 37 cm Höhe bildete sie die gesamte bekannte Welt ab – von Iberien im Westen bis Indien im Osten. Die Vorlage der äußerst kostbaren Prachtkarte aus dem 12./13. Jahrhundert lässt sich über mehrere Kopien möglicherweise bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. zurückführen. Das Format der sogenannten Tabula Peutingeriana, durch ihre Handhabung als Buchrolle bedingt, hat eine extreme Nord-Süd-Stauchung und Ost-West-Dehnung zur Folge. Deswegen ist der italische Stiefel mit Rom in der Mitte nach Osten geklappt. Im Stil eines Metroplans sind das Straßennetz mit den Entfernungsangaben zwischen den einzelnen Etappen – und somit die Kommunikationswege – prominent hervorgehoben.ExpH2: Tabula Peutingeriana, Ausschnitt von ca. 2/3 der Gesamtlänge | Tinte auf Pergament, 660 x 37 cm | Wien, Österreich, 12./13. Jh. | Österreichische Nationalbibliothek: Cod. 324, Umzeichnung: Konrad Miller (Hg.): Die Weltkarte des Castorius. Genannt, Die Peutinger’sche Tafel, Ravensburg 1887 |
Dank
Wir danken Bülent Altın (Aufbautechnik), Klaus Geus (Beratung, Rekonstruktionsversuche der Weltbilder von Anaximander, Hekataios und Eratosthenes), Michael Herchenbach (grafische Umsetzung der Weltbilder von Anaximander und Eratosthenes), Mirjam Kasperl (Vorlage der Karte ‚Der Weltverkehr” von Gustav Freytag), Michael Rathmann (Rekonstruktionsversuch des Weltbilds von Anaximander, Beratung zur Tabula Peutingeriana) und Susanne Weiss (redaktionelle Beratung).
Ausstellungslayout: Birgit Nennstiel
Für finanzielle Unterstützung danken wir dem Exzellenzcluster Topoi, dem Freundeskreis für Cartographica in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz e.v. und der Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.