Das Forschungsprojekt untersuchte den epistemischen Status von Orientierung an der Schnittstelle zwischen Raum und Wissen. Wie muss eine Epistemologie der Orientierung beschaffen sein, um den theoretischen Herausforderungen und praktischen Implikationen dieser Wissensform Rechnung zu tragen?

Research

Das Forschungsprojekt untersuchte den epistemischen Status von Orientierung an der Schnittstelle zwischen Raum und Wissen. Wie muss eine Epistemologie der Orientierung beschaffen sein, um den theoretischen Herausforderungen und praktischen Implikationen dieser Wissensform Rechnung zu tragen?

Forschungsmethodik, Forschungsformate und Vorgehen

Im Mittelpunkt des Dissertationsprojekts stand die historisch-systematische Untersuchung verschiedener Figuren und Konfigurationen der Orientierung. Im Hinblick auf den „impliziten“ bzw. „unthematischen“ Status von Orientierungswissen und Orientierungspraktiken war die Frage nach der Möglichkeit ihrer wissenstheoretischen Thematisierung und wissenschaftlichen Explikation von besonderem Interesse. Ferner galt es, unter kulturhistorischen Gesichtspunkten der Frage nachzugehen, welche Rolle spezifische Techniken und Instrumente für die Ausbildung und Konfiguration von räumlichen Orientierungspraktiken des Denkens, des Wahrnehmens und der leiblichen Bewegung spielen. Die von Michael Polanyi entwickelte Theorie des „impliziten Wissens“ fungierte hierbei als thematischer Leitfaden und Heuristik zugleich. Sie bildete das entscheidende Verbindungsglied zwischen praxis- bzw. habitustheoretischen Ansätzen [Aristoteles, Bourdieu, Ryle, Savigny/Schatzki/Knorr Cetina] auf der einen Seite und solchen epistemologischen Konzepten auf der anderen Seite, die die sozialen, kulturellen und denkkollektiven Bedingungen von Wissen, Wissensproduktion und Wissensakteuren in den Vordergrund stellen [Foucault, Bachelard, Fleck]. Auf diese Weise konnten sowohl die impliziten Voreinstellungen wissenschaftlichen Wissens (epistemische Haltungen) als auch die konkreten Wissenspraktiken (know how, skills, Könnerschaft, Virtuosität) in Betracht gezogen und für die hier angestrebte Epistemologie der Orientierung fruchtbar gemacht werden.
Anhand von symptomatischen Lektüren [Kant, Descartes, Hertz] wurden im ersten Teil der Untersuchung die praxistheoretischen Ansätze des neuzeitlichen Denkens (das methodische Denken Descartes’, der praktische und pragmatische Vernunftgebrauch Kants) als Orientierungsfiguren einsichtig gemacht und unter Rekurs auf Polanyi als personales bzw. implizites Wissen gefasst. Im Vordergrund standen dabei die räumlich-topographischen Operationen des Denkens, die mit antiken sowie hochmittelalterlichen Scheideweg- und Bivium-Darstellungen in Verbindung gebracht werden konnten [Prodikos, Xenophon, vgl. Panofsky]. Die Scheidewegsituation erwies sich bei Descartes als Ausgangspunkt des methodischen Denkens, das den neuzeitlichen Wissenschaften ihre entscheidende Orientierung verliehen hat. Demgegenüber konnte die topographische Metaphorik des Scheideweges, die Kant unter Rückgriff auf Moses Mendelssohn entwickelt hat, als krisenhafte Situation des aufklärerischen Denkens ausgemacht werden, in deren Folge sich theoretischer und praktischer Vernunftgebrauch voneinander trennten. Die für das Orientierungsparadigma Kants zentrale Kategorie des ‚Vernunftglaubens‘ wurde dabei auf die subjektive Unterscheidung zwischen rechter und linker Hand und damit auf eine leibliche Orientierungsfunktion zurückgeführt. Während die Orientiertheit der Körperseiten in einer religionsphilosophischen Lektüre als eine durch kollektive (religiöse und kulturelle) Praktiken informierte Form der Habitualisierung herausgestellt wurde, konnte die kantische Kategorie des Vernunftglaubens in Anschluss an Polanyis Konzept des personalen Wissens als epistemisch abgeschwächte Form des Wissens und als ‚postulatorisches Wissen‘ gefasst werden. Hierfür erwies sich nicht so sehr der aristotelische Begriff der hexis, als vielmehr das Konzept der phronêsis als wegweisend, das in der kantischen Urteilskraft und dem darin angelegten Vermögen des so genannten Mutterwitzes eine neuzeitlich-aufgeklärte Form angenommen hat.
Die mit Polanyi in ihren impliziten und personalen Modalitäten explizierten Operationen des Denkens bei Descartes und Kant konnten im zweiten Teil der Untersuchung für die körperlich-leiblichen Dimensionen der Orientierung aufgewiesen und damit für die Wahrnehmung als physiologischem Orientierungsparadigma produktiv gemacht werden. Anhand einer wissenschaftshistorischen Rekonstruktion der Experimentalisierung des Schwindels seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und der damit verbundenen Entdeckung des Gleichgewichtssinns wurde Orientierung hier als verkörpertes Wissen gefasst, das erst durch Irritationen und Störungen des kohärenten Wahrnehmungszusammenhanges überhaupt thematisch werden kann. Die für die physiologische Wissenserzeugung zentralen Apparate und Instrumente – Drehmaschinen und Schwindelsarrangements, die zu desorientierenden Wahrnehmungserlebnissen und -konfigurationen führten – wurden im dritten Teil im Hinblick auf ihre Resonanzen und Migrationen in verschiedenen Wissensräumen untersucht. Ein besonderes Augenmerk kam hierbei dem Einsatz von Drehstühlen als ‚psychiatrischem Heil- bzw. Zwangsmittel‘ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Das Prinzip der körperlichen Rotation, das im physiologischen Zusammenhang zur Entdeckung des Gleichgewichtssinns führte, wurde hier gegen den Wahnsinn als Form geistiger Desorientierung in Anschlag gebracht. Die Rotationsapparate des frühen 19. Jahrhunderts konnten zudem als historische Vorläufer von Flugsimulatoren in Betracht gezogen und damit in ihrer Bedeutung für technische Orientierungssysteme einsichtig gemacht werden.

Ergebnisse

In Aufnahme und Weiterentwicklung der Wissenstheorie Polanyis ist die epistemologische Verfasstheit von Orientierung insgesamt als ‚unthematisches Wissen‘ herausgestellt worden. Dabei handelt es sich um Wissensbestände, die unterhalb der Schwelle der bewussten Wahrnehmung und Erfahrung situiert und im Anschluss an Husserl als ‚unsichtig‘, ‚unanschaulich bewusst‘ und ‚nicht-aktuell‘ zu bezeichnen sind. Was die Wissensform der Orientierung kennzeichnet, ist eine ihr eigene, konstitutive Negativität, die anhand der methodischen Szenarien des Zweifels bei Descartes, des praktischen Vernunftgebrauchs bei Kant sowie der körperlich-leiblichen Erfahrung des Schwindels zum Aufweis gebracht werden konnte. Zwischenresultate der Untersuchung sind in zwei Sammelbänden erschienen.

Diskussion der Ergebnisse im Lichte der aktuellen Forschung

Mit dem Versuch einer Epistemologie der Orientierung hat die Untersuchung ein weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld erschlossen. Sie setzt sich damit dezidiert von einer kartographischen Diskursivierung der Orientierung ab, wie sie in der Folge des ‚spatial‘ bzw. ‚cartographic turn‘ entwickelt wurde. Stattdessen rückt sie die epistemischen Habitus [Aristoteles, Bourdieu, Polanyi], die ‚vor-kartographischen‘ Praktiken und körperlich-leiblichen Orientierungszusammenhänge als entscheidende wissenstheoretische Elemente von Orientierung in den Blick. Damit konnte die kürzlich erschienene „Philosophie der Orientierung“ von Werner Stegmaier, eine der wenigen philosophiegeschichtlichen Studien zu diesem Untersuchungsgegenstand überhaupt, um eine systematisch-epistemologische Perspektive ergänzt werden, die zugleich auf die antiken Vorläufer zurückweist, auf die aristotelische hexis (vgl. Metaphysik V 20; EN II 4, 1105b) und phronêsis (als eine „andere Art des Wissens“ – EE VIII I, 1246b) zugleich.
Die disziplinäre Einzelforschung, die Untersuchung der Experimentalisierung des Schwindels einerseits und die der kulturellen Symptomatik andererseits, konnte um einige entscheidende Aspekte komplettiert werden. So konnten etwa die optischen Versuche William Charles Wells’, die bisher ausschließlich im Zusammenhang mit der physiologischen Optik diskutiert worden sind, als konkrete Vorläufer der Selbstexperimente Jan Evangelista Purkinjes kenntlich gemacht, die dabei zum Einsatz kommenden Apparate hingegen mit dem Psychiatriediskurs des frühen 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden.

 

Die Dissertation wurde 2012 erfolgreich abgeschlossen.